#smartsetting Visual. Illustration: Till Lauer

Fünf Entwicklungsfelder im Videoconferencing

Renato Soldenhoff
7 min readMar 23, 2020

Kontexte, Commitment, Empathie, Zusammenarbeit und Konnektivität

Hinweis: Dieser Artikel ist für ein Magazin geschrieben, das im Frühling 2020 publiziert wird. Aus aktuellen Gründen stelle ich den Artikel bereits jetzt zur Verfügung, da er allenfalls hilfreiche Inputs für den Umgang mit Videokonferenzen bietet.

Mein Gesprächspartner sitzt an einem aufgeräumten Bürotisch, dahinter steht ein Gestell voller Bücher, das bis zur Decke reicht. Grad nebenan beantwortet eine weitere Gesprächspartnerin in ihrem Wohnzimmer eine Frage. Und ein Dritter sitzt in einer Art Gewächshaus und macht sich auf einem Stück Papier ein paar Notizen. All das zur selben Zeit, an anderen Orten und doch verbunden.

Das Internet verspricht Vernetzung. Diese ist selten so intensiv spürbar wie bei der Durchführung von Lehrveranstaltungen und Sitzungen per Videokonferenz. Videokonferenzen überbrücken Orte und Zeitzonen und ermöglichen teils Einblicke in private Kontexte. So habe ich gelegentlich das Gefühl, dass ich durch diese Einblicke in individuelle Räume mehr erfahre, als wenn wir im selben Raum am gleichen Tisch sitzen würden.

Die Vorteile von Videokonferenzen sind bestechend: Zugang für alle, standortunabhängiger Austausch, weniger Reisen, Zeitersparnis oder die Teilnahme über unterschiedlichste Geräte.

Die Industrie fördert diese Entwicklung und präsentiert in kurzen Abständen verheissungsvolle und faszinierende Technologien, die für eine bessere «Experience» sorgen. Doch die Anwendung dieser Werkzeuge scheint oftmals unausgereift. Die Konferenzen sind träge, uninspiriert und unpersönlich. Dabei mag es an der Affordanz dieser Technologien liegen, die auf eine Effizienz- und Produktivitätssteigerung hinzielen: sprechen, zuhören, präsentieren und im besten Fall an einem Poll teilnehmen. Momente des intensiven Zusammenarbeitens sowie des persönlichen und informellen Austausches finden in Videokonferenzen kaum Platz. Wenn wir in Zukunft mehr mit Videokonferenzen arbeiten und lernen möchten, so sollten wir diesen persönlichen, informellen und kollaborativen Aspekten mehr Aufmerksamkeit schenken.

An der Zürcher Hochschule der Künste haben wir — Charlotte Axelsson, Stefan M. Seydel und Renato Soldenhoff — die Lehrveranstaltung #smartsetting angeboten und uns gemeinsam mit den Teilnehmenden zu diesen Themen befasst: Wie können wir uns diese Technologien aneignen und sie geschickt und kreativ für die Kollaboration und das gemeinsame Lernen in gestalterischen Prozessen einsetzen? Wie können Ab- und Anwesende auf gleicher Augenhöhe in einladender Atmosphäre zusammenarbeiten? Und wie sehen digitale Kaffeepausen aus?

#smartsetting Visual. Illustration/Design: Till Lauer & Enea Bortone

Dieser Text bietet einen Einblick in die Erkenntnisse dieser Lehrveranstaltung, welche durch swissuniversities im Rahmen des Programms «P-8 Stärkung von Digital Skills in der Lehre» unterstützt und als offene Lehrveranstaltung durchgeführt wurde. Über den Kurs hinweg haben rund 20 Personen per Videokonferenz oder vor Ort an der ZHdK teilgenommen. Die Teilnehmenden haben eine eigene Fragestellung eingebracht und diese in einem offenen Prozess entwickelt: paul.zhdk.ch/smartsetting

Im Kurs wurden verschiedenen Methoden direkt ausprobiert und diskutiert. Nachfolgend stelle ich fünf Entwicklungsfelder vor, die sich herauskristallisiert haben und auch auf Erfahrungen anderer Veranstaltungen beruhen.

Kontexte — verschiedene Situationen berücksichtigen

Bei der Gestaltung einer Videokonferenz sollte als erstes das Grundsetting der Videokonferenz geklärt werden. Handelt es sich um ein 1:1-Gespräch, ist es eher eine Präsentation (1:N) oder hat die Videokonferenz kollaborativen Charakter (N:N)? Nimmt eine Mehrzahl von Personen teil — vor Ort und/oder an verschiedenen Orten? Antworten zu diesen Fragen bieten Hinweise für die Gestaltung der Konferenz, der Räume, der Zusammenarbeit und die Wahl der Technologie.

Bei einer 1:N oder N:N-Konferenz empfehlen wir, neben der moderierenden Person eine Person für Betreuung der Videokonferenz einzubeziehen. Und wenn in einem solchen Setting mehrere Personen physisch vor Ort sind und mit Abwesenden zusammenarbeiten sollen, benötigen diese Kollaborationsmomente ein besonderes Augenmerk, da sie schnell sehr komplex werden können.

Zusätzliche Fragen zu kontextuellen Bedingungen drehen sich um das Gegenüber: Wer sitzt am anderen Ende, welche Uhrzeit ist bei dieser Person, und wie sieht deren räumlicher Kontext aus? Eine Gesprächspartnerin erwähnte, dass eine Vorstellungsrunde mit genau solchen Informationen zu Beginn von Konferenzen helfen, eine vertrauensvolle und informelle Atmosphäre zu schaffen und die Stimmung des Gegenübers einzufangen. Denn ob der Tag gerade erst angebrochen ist oder zu Ende geht, hat einen Einfluss auf das Gespräch.

Ein Blick hinter die Kamera: Orte der #smartsetting Teilnahme.
Bild: Stefan M. Seydel
Bild: Frank Renold

Eine Möglichkeit, solche Fragen spielerisch einzubinden, ist, dass die Teilnehmenden ein Foto von dem Ort machen und teilen, an dem sie gerade sitzen. Die Einblicke in diese Welten sind aufschlussreich.

Und damit ihre Welt nicht für Überraschungen sorgt, ermutigen wir, die eigene Arbeitsumgebung bei Videokonferenzen aktiv zu gestalten. Mikrofone helfen für eine gute Kommunikation, ausgewählte Hintergründe für ein adäquates Bild.

Commitment — durch Verbindlichkeit ein Gemeinschaftsgefühl erzeugen

Insbesondere bei online-Lehrveranstaltungen haben wir die Erfahrung gemacht, dass das Commitment der Teilnehmenden eine Herausforderung ist. Schnell hat man sich zu einem Kurs eingeschrieben, doch die aktive Teilnahme ist anspruchsvoll. Es mag daran liegen, dass die Zeit für Teilnahme und Vorbereitung nicht eingeplant wird, dass die online Teilnahme nicht attraktiv ist, dass die Teilnehmenden gehemmt sind, sich online respektive in Videokonferenzen zu exponieren, oder Videokonferenz-Terminen nicht dieselbe Relevanz beimessen wie Begegnungen vor Ort [1].

Um diesem Phänomen entgegenzutreten, erproben wir verschiedene Umgänge. Etabliert hat sich, dass wir online Lehrformate kollaborativ mit den Teilnehmenden gestalten und dafür im Vorfeld Rollen vergeben, wie beispielsweise Session-Verantwortliche, Inputerin oder Feedbacker.

Eine grundlegend andere Herangehensweise ist die Haltung «Commitment without Binding [2]». Mit «unverbindlichem Engagement» beschreibt Stefan Seydel (2019), dass online Kollaboration andere Paradigmen mit sich bringen kann: Teilnehmende sollen sich nicht zeitlich verpflichten; auch wenn sie auch nur zu einem einzigen Zeitpunkt das Vorhaben voranbringen. Sei es durch einen Input oder eine Rückmeldung, sei dies als Gewinn an der Sache zu werten. Wie dieses Commitment in online Kursen und Videokonferenzen als Chance genutzt werden kann, ist eine spannende Fragestellung, die uns auch weiterhin begleitet.

Empathie — soziale Beziehungen kultivieren, denn sie sind auch in einer virtuellen Umgebung wichtig

Haben Sie jemals nach einer Präsentation in einer Videokonferenz applaudiert? Soziale Praktiken, die wir in Begegnungen und Veranstaltungen vor Ort eingeübt haben, funktionieren in Videokonferenzen nicht immer. Rapport zu geben und zu erkennen, ist anspruchsvoll. Als präsentierende Person in einer Videokonferenz sind die anderen Teilnehmenden bei eingeschalteter Kamera zu sehen, es ist aber schwierig, deren Gesichtsausdruck zu lesen. Vielleicht ist ein Nicken zu erkennen oder ein Räuspern zu hören.

Um Unsicherheiten entgegenzuwirken, können gemeinsame Formen des Rapports definiert werden. Beispielsweise können Zustimmung oder Applaus mit einer Hand nach oben visualisiert werden, Ablehnung durch gekreuzte Arme.

Gemeinsam Rapport definieren. Bild: Screenshot aus der Session 1

Um informelle Momente zu schaffen und damit Empathie zu kultivieren, führen wir zu Beginn von Videokonferenzen auch Plaudersessionen durch. Mit vielen Teilnehmenden beginnt die Videokonferenz nach einer Begrüssung in Breakoutsessions, also Sub-Videokonferenzen; die Teilnehmenden haben in Kleingruppen Zeit, sich über Alltägliches auszutauschen, erst im Anschluss starten wir im Plenum.

Eine weitere subtile Möglichkeit, dem Gegenüber Empathie zu vermitteln, ist es, den eigenen Videoausschnitts zu gestalten. Das können im Vorder- oder Hintergrund reale oder aber virtuelle Objekte sein, die auf das Thema oder die Person verweisen — wie beispielsweise ein Plakat der Veranstaltung.

Zusammenarbeit — Teilnehmende aktivieren und involvieren

Videokonferenzen lassen Teilnehmende rasch in eine passive, konsumierende Haltung verfallen [3]. Um dem entgegenzuwirken, empfehlen wir, den grösseren Teil der Konferenz als aktive Zusammenarbeit zu gestalten.

Während der Videokonferenz erprobten wir Kollaborationsformate, wie beispielsweise die «ruhige Zusammenarbeit», bei welcher alle Teilnehmenden in einem webbasierten, kollaborativen Texteditor Teams bildeten, Fragen sammelten und schriftlich beantworten. Die erwähnten Breakout-Sessions nutzen wir ebenfalls für die individuelle Zusammenarbeit, danach kommen die Teilnehmenden für die Ergebnispräsentation in die grosse Gruppe zurück.

Um die Aktivierung auf die Spitze zu treiben, haben wir auch mit Formaten experimentiert, in denen die Teilnehmenden aufstehen und mithilfe von Körperstellungen Rückmeldung geben — hier ist die Offenheit der Teilnehmenden Voraussetzung.

Konnektivität — das Potenzial der Vernetzung über Zeit und Ort nutzen

Videokonferenzen vernetzen Personen über Grenzen hinweg. Sich dieser Vernetzung bewusst zu werden und aktiv damit zu arbeiten, ist eine weitere Erkenntnis. So ist es gegenüber Vor-Ort-Veranstaltungen ein Leichtes, verschiedenste Personen zusammenzubringen und Meinungen und Ansichten zu diskutieren. Und nebenbei bieten Chats die Möglichkeit, Parallel- und Metadiskussionen zu kanalisieren und visualisieren.

Neben dem inhaltlichen Mehrwert bietet die Konnektivität auch spielerische Möglichkeiten. Bei #smartsetting entstand die Situation, dass an zwei Orten zufälligerweise dieselbe Flasche der gleichen Mineralwassermarke stand. Interessant war, dass diese zwei Objekte den Raum verbinden und überbrücken konnten. Aus dieser Erfahrung heraus haben wir kürzlich bei einer internationalen Videokonferenz die Teilnehmenden gebeten, zur Vorbereitung eine Tasse Tee und ein Objekt mitzubringen, das sie interessant finden. Der Tee verbindet und schafft zusätzlich eine olfaktorische Komponente. Und das Objekt visualisiert Gedanken und repräsentiert die Person.

Diese fünf Bereiche Kontext, Commitment, Empathie, Zusammenarbeit und Konnektivität fassen unsere Erfahrungen aus verschiedenen Kollaborations- und Lehrformaten mit Videokonferenzen zusammen und bieten Gestaltungskriterien, wie wir zukünftige Konferenzen durchführen möchten. Sei es für die Zusammenarbeit oder Lehrveranstaltung. Unser Ziel ist es, in Zukunft Videokonferenzen zu gestalten, die eine persönliche und informelle Atmosphäre schaffen, damit sich die Teilnehmenden bestmöglich einbringen und intensiv zusammenarbeiten können — beinahe wie bei digitalen Kaffeepausen.

Die Zukunft des Lernens

Aufgrund der sich verändernden ökologischen Bedingungen, dem Zugang zu Bildung unabhängig von Herkunft, der Internationalisierung von Institutionen, geografisch verteilter Teams, des steigenden Interessens nach flexiblem Lernen und Arbeiten sowie der technologischen Entwicklungen werden virtuelle Möglichkeiten des Austauschs weiter an Relevanz gewinnen. Videokonferenz ist eine gegenwärtige Technologie und bietet Institutionen die Möglichkeit, Formen der Zusammenarbeit im Alltag zu etablieren, kultivieren und zu erproben.

Die beschriebenen Herangehensweisen und Taktiken eignen sich für unsere Arbeit an der Zürcher Hochschule der Künste. Die Übertragbarkeit bleibt zu diskutieren. Unser Vorgehen illustriert jedoch einen Aspekt, der für die heutige und zukünftige Lehre wichtig ist: der selbststimmte, reflektierte und lustvolle Umgang mit Technologie. Damit können wir diese Technologie gestaltend und kreativ für unsere Bedürfnisse einsetzen und den Gebrauch und die Lehre der Zukunft persönlicher und damit lustvoller machen.

Weiteres
Hinweise fürs kreative Arbeiten, Kommunizieren und Präsentieren im virtuellen Raum mit Videokonferenzen, medienarchiv.zhdk.ch

Lehrszenarien für Videokonferenzen, ella.zhdk.ch

Quellen
[1] Lynch (2018): Why Do Learners Drop Out of Online Courses?. URL: https://www.learndash.com/why-do-learners-drop-out-of-online-courses. Stand. 27.2.20.

[2] Seydel (2019): #SmartSetting (Ausführungen zur Methode). URL: https://meta.wikimedia.org/wiki/Dienstag/Glossar##SmartSetting_(Ausf%C3%BChrungen_zur_Methode). Stand: 27.02.20.

[3] Teachonline.ca (2012): Videoconference Teaching Activities. URL: https://teachonline.ca/sites/default/files/pdfs/videoconferencing_teaching_activities_july_2012.pdf. Stand: 27.02.20.

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Renato Soldenhoff

Renato Soldenhoff arbeitet an der ZHdK als Co-Leiter Digitalrat und Programmleiter Digital Skills & Spaces. Eigene Projekte setzt er mit Curious About um.